Regennacht

Eine Kurzgeschichte, die es nicht in eine Anthologie geschafft hat. Die ich meinem Freundeskreis aber nicht vorenthalten möchte:

„Komm da weg!“, gellte die Stimme des Bauern über das Feld. Der Traktor – auf halber Reihe dem Mähdrescher folgend, um dessen Fracht von gedroschenem Getreide aufzunehmen – hielt an, und der Bauer sprang aus der Kabine und rannte zu dem kleinen Jungen.

Markus hatte sein Fahrrad im Schatten des Wäldchens abgestellt und sich dem dunkelgrünen Teich inmitten von Feldsteinen und hohen Birken genähert. Nun blieb er verwirrt stehen, während der Bauer wie von Furien gejagt über das abgeerntete Stück des Feldes zu ihm rannte.

„Komm da weg, Junge!“

Er panzerte durch Brombeergestrüpp und bekam Markus am Oberarm zu fassen.

„Ich wollte nur…“

„Das wollte die Kleine auch nur, nur mal die Füße nass machen, weil es so heiß ist. Das Ufer ist schlüpfrig, und der Boden fällt steil ab. Komm von dem Tümpel weg, Junge. Das ist zu gefährlich. Komm, sei brav, sonst muss ich es deinen Eltern erzählen.“

Die Drohung wirkte – wie immer. Markus folgte artig bis zu seinem Rad und zog dieses aus dem Gebüsch.

„Was ist mit der Kleinen passiert?“, fragte Markus schließlich, als der Bauer ihm zum Abschied auf die Schultern klopfte und zurück zu seiner Arbeit gehen wollte.

„Sie ist ertrunken.

 

Der letzte Traktor verließ das Feld nach Einbruch der Dunkelheit. Wie besessen hatten die Männer gearbeitet. Nur schnell vor dem Regen den letzten Hektar abernten, nur schnell das Getreide noch trocken einfahren.

Markus lag in seinem Bett und dachte an das kleine Mädchen, das in dem Tümpel ertrunken war. War es die Tochter des Bauern gewesen? Oder hatte er das Kleine gefunden? Es musste einen Grund für seine extreme Sorge geben, fand Markus.

Während Regen an die Fensterscheibe klopfte, wurde es draußen immer dunkler.

 

Eine Ricke humpelte langsam über das abgeerntete Feld. Ihr Kitz folgte ihr brav. Fühlen Tiere Kummer, wenn ein Mitglied ihrer Herde krank ist? Wenn es die eigene Mutter ist, die vor Schmerzen bei jedem Schritt leise stöhnt?

Der Himmel schien zu weinen über der humpelnden Ricke, die sich langsam aber zielstrebig auf das Wäldchen zuarbeitete.

Wie eine smaragdgrüne Insel lag das Wäldchen um den Tümpel im goldenen Stoppelfeld. Regen flüsterte in den Zweigen und Ästen der Bäume, plätscherte über Brombeerblätter, färbte den Ackerboden dunkel.

Die Wolken rissen auf, als die Ricke den Feldrain erreichte. Mondlicht fiel auf den kleinen Wald, spiegelte sich in der Wasseroberfläche des Tümpels.

Die Ricke verharrte. Ihr Kitz drängte dicht an sie heran. Die Mutter schnaubte leise und wartete.

Die Wasseroberfläche kräuselte sich sacht. Kleine Wellen liefen vom Ufer zur Mitte des Teiches.

Eine kupferfarbene Beule brach durch die Wasseroberfläche, stieg weiter auf, und es war der Kopf eines Kindes. Lustige Rattenschwänzchen, mit hellblauen Schleifen gehalten, standen links und rechts vom Kopf ab. Sommersprossen sprenkelten Näschen und Wangen. Die blauen Augen waren groß und unschuldig.

„Hast du dir weh getan?“, fragte eine helle Kinderstimme.

Die Ricke senkte zur Antwort den Kopf und stieg langsam und vorsichtig zum Tümpelufer herab.

„Du Arme. Komm nicht näher. Das Ufer ist rutschig. Ich bin hineingefallen. Das darf dir nicht passieren. Oh, du hast ein Kleines. Ist das hübsch. Darf ich es streicheln?“

Das Kitz trippelte näher, und der rotblonde Kinderkopf schwamm zum Ufer. Kleine, weiße Hände teilten das Wasser, und am Ufer richtete das Kind sich auf.

Ein kleines Mädchen in einem kurzen Sommerkleid, hellblau mit weißen Punkten und niedlichen Puffärmeln.

Die weiße Hand streichelte ganz vorsichtig über den Kopf des Kitzes.

„Hab keine Angst, Kleines. Ich helfe deiner Mama, und dann könnt ihr beiden wieder ganz schnell laufen. War das Wetter schön heute? Hat die Sonne geschienen? Ich vermisse die Sonne.“

Sie stellte sich hin und schlang beide Arme um den Hals der Ricke. Die bloßen Füße standen fest im morastigen Ufersaum des Tümpels. Sie schmiegte die Wange an die Schulter der Ricke und streichelte den schlanken Hals.

„Du riechst nach Sonne, meine Freundin. Wenn du über die Felder springst, denk an mich, wie gerne ich mit dir laufen würde.“

Zärtlich leckte die Ricke dem kleinen Wasserkind über die Wange, dann kletterte sie vorsichtig die Böschung wieder hinauf. Ihr Kitz sprang ihr fröhlich nach, umrundete die Mutter mit munteren Bocksprüngen und blieb dann stehen, um zum Tümpel und dem rothaarigen Mädchen herabzusehen.

Das Kind winkte zum Abschied und wandte sich um, um wieder in die Mitte des Teiches zu gehen. Dort würde es versinken, bis es wieder gebraucht wurde – nur bei Nacht hatte es die Kraft, aus dem Teich emporzusteigen.

„Hey, du!“, wisperte es da von der Böschung. Die Ricke sprang bei diesem fremden Laut erschrocken davon, das Kitz im Gefolge.

Das rotblonde Mädchen blieb stehen, nur bis zu den Knien im Wasser versunken. Mit großen Augen sah es zu dem Brombeergebüsch.

Markus kämpfte sich durch die Ranken auf den Tümpel zu, und das Mädchen hob die Hand: „Das Ufer ist rutschig!“

„Ja, weiß ich. Ich pass schon auf. Ich konnte nicht schlafen. Der Bauer hat gesagt, hier ist jemand ertrunken. Warst du das?“

Er setzte sich im Schneidersitz an den Uferrand. Das Mädchen setzte sich ebenso auf die mondschillernde Wasseroberfläche.

„Hast du gar keine Angst vor mir?“

„Wieso sollte ich? Ich hab zugeguckt, wie du dem Reh geholfen hast. Warum soll ich da Angst haben?“

„Du bist lieb. Es ist so langweilig hier. Gestern waren ein kranker Hase und eine Eule hier. Die Eule hatte sich den Fuß verletzt.“

„Du hast gar kein Spielzeug“, stellte Markus fest. Er war selber erst fünf Jahre alt, und ein Leben ohne Spielsachen konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

„Die Tiere sind nett zu mir. Und jetzt bist du da und unterhältst dich mit mir. Danke, das ist lieb.“

„Wie heißt du eigentlich?“

„Ich bin Christine. Und du?“

„Markus. Ich war heute Nachmittag schon mal hier. Ich wollte nur mal die Füße abkühlen. Es war so warm! Aber der Bauer hat mich weggejagt.“

„Mein Papa. Er tut mir so leid. Ich kann ihn sehen vom Grund des Sees, durch die Wasseroberfläche. Aber er kann mich nicht sehen.“

Markus rutschte unbehaglich auf seinem Hosenboden hin und her. Er hatte es sich gruselig und ein wenig unheimlich vorgestellt, aber es war nur traurig. Christine tat ihm leid. Er wollte gerne etwas für sie tun. Sie half den Tieren, aber mit Tieren kann man doch nicht sprechen, und so war Christine immer allein.

Jetzt nicht, jetzt war er da. Aber er konnte ihr ja nicht immer Gesellschaft leisten. Er überlegte, was er für sie tun könnte, und ihm fiel nur ein, ihr Spielsachen zu bringen. Aber das reichte nicht, irgendwie.

 

Achtzig Jahre später stieg Markus mühsam aus seinem Auto, das er am Feldrain abgestellt hatte. Ihm tat alles weh. Er war so alt geworden, und in ihm nagte Krebs an seinen Eingeweiden.

Aber heute war ihr Jahrestag, und Christine wartete auf ihn. Jedes Jahr in der gleichen Nacht war er zu ihr gekommen – wenn nicht öfter, aber den Jahrestag verpasste er nie.

Er stützte sich schwer auf seinen Spazierstock, betrachtete den Blumenstrauß mit den bunten Anhängern und kleinen Porzellanelfen, die zwischen den Blüten hervorsahen. Er freute sich auf Christine, und er hatte Angst. Denn er wusste, dass er bald sterben würde. Wer würde sie dann besuchen, sich mit ihr unterhalten und lachen?

Das Getreide war abgeerntet, und er ging langsam und mühsam über den Acker – wie jene Ricke vor achtzig Jahren, die dem Tümpel zugestrebt war auf der Suche nach Heilung.

„Christine?“, rief er, als er das Wäldchen erreichte. Das Wasser kräuselte sich, und sie tauchte auf, sah ihm von der Mitte des Tümpels zu, wie er mühsam zum Wasserrand kletterte.

Markus rutschte aus.

Der Blumenstrauß flog in den Tümpel, und Christine tauchte unter, schoss zum Ufer und packte Markus, der schon halb unter Wasser war. Ihre weißen Hände packten die Jackenaufschläge.

Sie zog ihn in die Tiefe.

 

Ein Wildschwein kam zum Tümpel, um zu trinken. Es blieb mit allen Anzeichen der Verblüffung stehen, als es helles Kinderlachen hörte. Langsam kam es näher und sah zwei Kinder, die mitten auf der silbrig glänzenden Oberfläche des Teiches saßen, sich unterhielten und miteinander lachten, wo Krebs und Alter keine Macht mehr hatten.